HT 2023: Familiäre Wahrheiten und prekäres Wissen. Medien- und wissenshistorische Zugänge zu den europäischen Familienbüchern des Spätmittelalters

HT 2023: Familiäre Wahrheiten und prekäres Wissen. Medien- und wissenshistorische Zugänge zu den europäischen Familienbüchern des Spätmittelalters

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Anna Petutschnig, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte III, Historisches Seminar, Universität Münster

Es ist ein Gemeinplatz, wonach man sich zwar seine Freunde, nicht aber seine Familie aussuchen könne. Nach dem Besuch der von Marc von der Höh (Rostock) und Hanna Wichmann (Rostock) organisierten Sektion könnte man an der Aussagekraft dieses Spruchs zweifeln, denn darin wurden unter anderem die Elastizität des Familienbegriffs sowie die Fragilität des Wissens und der Definition dieser Erinnerungsgemeinschaften in spätmittelalterlichen Familienbüchern deutlich. Vorrangig wurde anhand von Beispielen aus Deutschland und Italien den Fragen nachgegangen, welche Textstrategien und Referenzierungsverfahren in dieser Quellengattung genutzt werden, welche Personen an deren Entstehung beteiligt waren, welche Materialität diesen zugrunde liegt und wie Familienbücher letztendlich rezipiert worden sind.

MARC VON DER HÖH (Rostock) verdeutlichte in seiner Einführung die Wichtigkeit der Verschriftlichung des familiären Wissens als Teil der familiären Geschichtskonstruktion: Familienbücher seien aufgrund der im Spätmittelalter stark zunehmenden Alphabetisierung und der damit einhergehenden Nutzung der Schrift für private Zwecke im Rahmen der pragmatischen Schriftlichkeit entstanden. Familien, die als kulturell konstruierte und soziale Gruppen über identitätsstiftende kollektive Gedächtnisse verfügen, hätten ihr gemeinschaftliches Wissen gegen das Vergessen und konkurrierende Deutungen abgesichert. Während dies im Früh- und Hochmittelalter vor allem durch außerfamiliäre Spezialisten geschehen sei, seien erstmals im 13. Jahrhundert in Italien, vor allem in der Toskana, vermehrt familienbezogene Einträge von Familienmitgliedern im Rahmen der kaufmännischen Buchführung getätigt worden. Daraus hätten sich eigene Buchreihen mit familienbezogenen und allgemeineren Einträgen, die sogenannten Ricordanze entwickelt, die schließlich zu Libri di famiglia mit rein familienbezogenen Inhalten bzw. zu literarisch ausformulierten Storie familiare ausgebaut worden seien. Die Annahme, wonach italienischsprachige Familienbücher direkt oder indirekt ab Ende des 14. Jahrhunderts auf die Entstehung der ersten deutschsprachigen Familienbücher in Süd- und Westdeutschland Einfluss genommen hätten, sei laut Von der Höh bislang nicht sicher belegbar. Er regte dazu an, einen strukturellen Erklärungsansatz zu verfolgen, demzufolge vor allem sozialgeschichtliche Rahmenbedingungen zur europaweiten Entstehung dieser Quellengattung beigetragen hätten: So seien Familienbücher vor allem in Phasen hoher vertikaler Mobilität entstanden, immer dann, wenn familiäre Gruppen im Auf- oder Abstieg gewesen seien. Familienbücher, für die es in der deutschsprachigen Forschung noch keine einheitliche Definition gebe, unter denen aber innerhalb dieser Sektion durch ein Familienmitglied vorgenommene, erinnerungswürdige Aufzeichnungen von familienbezogenen Inhalten unterschiedlicher Art verstanden wurden, hätten nicht nur zur familieninternen Kommunikation gedient, sondern seien auch von familienexternen Personen gelesen worden und hätten so auch repräsentativen Charakter erhalten.

Im Hinblick auf die Quellengattung seien, so Von der Höh, viele Fragen untersuchungswürdig, etwa die nach dem Einfließen des kommunikativen Gedächtnisses in die verschriftlichten Werke; die nach dem Umgang mit konkurrierenden Deutungen oder die nach der Rolle der Emotionen beim Erinnern an familiäre Ereignisse.

GREGOR ROHMANN (Frankfurt am Main) griff in seinem Vortrag die Frage nach dem repräsentativen Charakter der Familienbücher auf. Er zeigte anhand der vom Augsburger Geschichtsschreiber Clemens Jäger (1500–1561) angefertigten Ehrenbücher, dass bebilderte Familienbücher bisher aufgrund ihrer buchkünstlerisch reichen Ausstattung viel zu unmittelbar als Repräsentationsmedien betrachtet worden seien, obwohl sie aufgrund ihrer Produktionsbedingungen, ihrer Materialität, ihrer Medialität und ihrer Rezeption auch als Gegenstände eines Gabentauschs gesehen werden sollten.

Jäger habe reihenweise Ehrenbücher für ortsansässige Familien produziert und dabei als „Ghostwriter“ Textbausteine (etwa Widmungen oder Vorreden) mehrmals verwendet. Die Hausväter seien dabei, untypisch für diese Quellengattung, vom eigenhändigen Autor zum Auftraggeber geworden, der teilweise zwar eng mit Jäger zusammengearbeitet habe, dem aber letztendlich vor allem verschriftlichte Inhalte als Deutungsangebote präsentiert wurden. In einem hierarchisch-klientelistischen Gabenaustausch sei die Übergabe des Werks erfolgt.

Rohmann unterstrich die nach innen gerichtete Grundidee von Familienbüchern, wonach diese vor allem dem Familienoberhaupt dazu dienen sollten, den jeweiligen Nachkommen die eigene Geschichte darzustellen, wobei die Nachfolgegeneration aufgrund der sich verändernden Verwandtschaftsbeziehungen oft kein Interesse an deren Weiterführung gehabt oder gleich ihre eigenen Familienbücher angefertigt habe. Je nach Ausstattungsaufwand sei von unterschiedlichen Gebrauchshorizonten und Funktionen auszugehen. Abhängig vom intendierten Lesepublikum sei nicht die Selbstwahrnehmung oder der Status der jeweiligen Familie nach außen hin dokumentiert, sondern, angepasst an die Situation, die Geschichte der jeweiligen Familie erzählt worden. So sei das Ehrenbuch des Kaufmanns Ulrich Linck (1560/61) das prächtigste Jäger´sche Werk, während das der Fugger vergleichsweise gemäßigt bebildert sei, obwohl nicht nur sie, sondern auch andere reichere Familien wesentlich mehr Geld für andere Formen der Selbstdarstellung, etwa die Errichtung von Gebäuden, ausgegeben hätten. Dazu komme, dass Familienbücher innerhalb eines familiären und freundschaftlichen Netzwerkes als Gegenstände des temporären Gabentauschs zirkuliert seien und vielfach Elemente daraus, etwa Portraits oder Gedichte, als Vorlage für weitere Exemplare gedient hätten. Daher müssten Familienbücher, so Rohmann, mit Blick auf die Netzwerkstruktur, in der sie entstanden sind, betrachtet werden und hätten letztendlich über eine begrenzte Validität, Reichweite und Relevanz verfügt.

HANNA WICHMANN (Rostock) hinterfragte in ihrem Vortrag die Ziele der Autoren:innen von florentinischen Ricordi bzw. Ricordanze hinsichtlich der Sicherung des Familienwissens, welche Verifizierungsstrategien hierfür in den Argumentationen genutzt wurden und wie letztendlich die eigene, individuelle Wahrheit in der Darstellung und Deutung von unterschiedlich interpretierbaren Ereignissen kommuniziert wurde. So seien viele der mehreren hundert florentinischen Familienbücher, die in die Zeit des 13. bis 15. Jahrhunderts datieren und aus der urbanen Kaufmannselite stammen, für einen klar innerfamiliären Adressatenkreis sowie dessen Nachkommenschaft verfasst worden. Die sehr heterogenen Ricordanze, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Tatsache sei, dass in ihnen niedergeschrieben ist, was Autor:innen im Hinblick auf ihre Familie als relevant und überlieferungswürdig betrachten, seien in Zeiten des Auf- und Abstiegs zur strategischen Abgrenzung von anderen Familien angefertigt worden, um die eigene soziale Position zu legitimieren oder zu sichern. Dabei sei auch nicht vor der gezielten Verschriftlichung von Falschinformation zurückgeschreckt worden.

Als Entstehungsgrund werde in den Familienbüchern häufig auch die Sorge um den (weiteren) möglichen Verlust familienbezogenen Schrifttums geäußert und somit die Fragilität des Wissens und der Quellen rund um die eigene Verwandtschaft betont. Wichmann kategorisierte daher Familienbücher als „innerfamiliäre, generationsübergreifende Kommunikation“ und strich hervor, dass vor allem während der Frühen Neuzeit viele Familienbücher bewusst abgeschrieben oder zusammengefasst worden seien, um deren Verlust und inner- und außerfamiliären Zerstörung vorzubeugen, da nicht wenige familiäre Schriften intentionell vernichtet wurden, um die Erinnerung an oder innerhalb einer Familie auszulöschen.

Als Verifizierungsstrategien zur Steigerung der Glaubhaftigkeit der Inhalte seien häufig Angaben zu der Person, von der die jeweiligen Informationen stammten, gemacht worden, wobei oft die Autorität der genannten Gewährsleute anhand der Nennung eines erhöhten Alters unterstrichen werde. In autobiographischen Ausführungen hingegen würden sich die Autor:innen selbst als Gewährsperson für die verschriftlichten Informationen definieren und so ihre zeitgenössischen Berichte legitimieren.

MARCO TOMASZEWSKI (Freiburg) begann seinen Vortrag in Anlehnung an Joachim Eibach mit dem Hinweis auf die Fragilität von Familien und darauf, dass mit dem Begriff „Familie“ sowohl eine empirisch fassbare Struktur im Sinne einer Haushaltsfamilie als auch eine soziale, durch kommunikative Praktiken entstandene Konstruktion gemeint sein könne. Familienbücher seien einerseits innerhalb der Haushaltsfamilie produziert und rezipiert worden, hätten andererseits aber auch die Verwandtschaftsfamilie konstruiert und diese im Sinne des Konzepts von doing difference von anderen Statusgruppen und Familien abgegrenzt. Familienbücher von städtischen Verwandtschaftsverbünden seien gerade aufgrund ihres urbanen, also heterogenen und konkurrenzgeprägten Umfelds und ihrer kommunalen Umgebung, in der es ständig um politische Einflussnahme ging, entstanden. Der Vortragende betonte hierbei das Desiderat, vergleichende Untersuchungen mit Familienbüchern nichtstädtischen Ursprungs durchzuführen.

Den Verfassern – zum Großteil männliche Autoren – sei es hauptsächlich darum gegangen, die eigene Familie mittels eines „kapitalträchtigen“ Mediums zu repräsentieren, Wissen zu übertragen und die familieninterne Gruppenbildung zu fördern. Tomaszewski betonte, dass die mediale Praxis, familienbezogenes Wissen handschriftlich zu überliefern, auch die Möglichkeit zur Inszenierung der eigenen Individualität und Exklusivität abseits des Inhalts geboten habe. Zudem hätten die Familienbücher Verwandtschaft nicht nur anhand der in ihnen enthaltenden Informationen, sondern auch anhand der mit ihnen einhergehenden kommunikativen Praktiken (vorrangig Gebote zur Aufbewahrung, zur Weitergabe oder Geheimhaltung bestimmter Inhalte bzw. zum erwünschten Publikum) aus der entsprechenden Kommunikationsgemeinschaft konstruiert. Vor allem die oft nur angedeutete, aber nicht ausgeführte Geheimhaltung der Inhalte kann hierbei als Methode, den Inhalt interessanter zu machen, gedeutet werden. Während der Konstruktion der eigenen Verwandtschaftsgruppe sei man prinzipiell einem patrilinearen Denken verhaftet gewesen und habe vielfach weibliche Familienmitglieder marginalisiert, in der Praxis sei aber aus Ermangelung männlicher Nachkommen, die die familiäre Schriftlichkeit fortführen konnten, dieses Denken oft nicht strikt umgesetzt worden. Dennoch seien Familienbücher vielfach dafür genutzt worden, auch die Position des Hausvaters zu festigen und seine Männlichkeit zu konstruieren.

LISA KABORYCHA (Prato) gab mit ihrem Vortrag einen Einblick in die Verifizierungsstrategien und die Schreibpraktiken beim Verfassen von Zibaldoni. Unter dem Begriff Zibaldoni werden informelle, in Volkssprache verfasste Anthologien verstanden, die in der Zeit vom 14. bis zum 16. Jahrhundert in Florenz entstanden sind. Die meisten dieser ca. 2000 Manuskripte wurden in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von Amateurschreiber:innen zum Freizeitvergnügen verfasst.

Zibaldoni seien, wie auch Familienbücher, ursprünglich aus dem kaufmännischen Wunsch heraus entstanden, die für sich selbst als wichtig erachteten Schriften zusammenzustellen und für die Erinnerung zu bewahren, seien aber bald von einem Großteil der florentinischen Elite verfasst worden. Hierfür sei traditionelles Buchwissen abgeschrieben und gegebenenfalls emendiert und mit neu gewonnenen, empirischen Informationen angereichert worden. Dabei sei auch der Wunsch vorhanden gewesen, die eigene Welt nicht nur topographisch (etwa mit Informationen aus Portolankarten oder mit den Maßen des Florentiner Doms), sondern auch chronologisch, anhand der Einbettung der Stadtgeschichte in den Kontext aktueller Weltgeschehen abzubilden. Ebenso hätten andere Informationen, wie etwa Kochrezepte und deren (Nicht-)Empfehlung, Einzug in diese Werke gefunden. Während ihrer Abschreibtätigkeit seien die Verfasser (und auch Verfasserinnen, etwa Nonnen) vielfach zu Chronist:innen geworden und hätten tagesaktuelle Ereignisse, wie etwa im Falle des Zibaldone des Viviano di Pietro de´ Viviani die Ermordung Giuliano de Medicis, mitten in dem Text, den sie gerade kopierten, vermerkt. Hierbei sei zu beobachten, so Kaborycha, dass die Schreibenden zeitgenössische Nachrichten entweder durch den Hinweis auf ihre eigene Augenzeugenschaft oder anhand der genauen Nennung der Zeugen und des Datums, wann und wo sie von der Information erfahren haben, absicherten. Dabei dürfe nicht vergessen werden, dass das Erzeugen eines Kollektiven Gedächtnisses im Florenz der Renaissance eine entscheidende Wichtigkeit besaß, die auch unter anderem aus dem Wunsch entstammte, der durch das beginnende Druckwesen explodierende Fülle an gegensätzlichen und oftmals verwirrenden Informationen Herr zu werden und tatsächlich Geschehenes zu dokumentieren. Ein Bedürfnis, das, so Kaborycha, auch in unserer heutigen, schnelllebigen Zeit vorhanden sei.

Die Sektion veranschaulichte, dass Wissen in spätmittelalterlichen Familienbüchern, je nach Entstehungshintergrund, unterschiedlich produziert und kommuniziert wurde. Während etwa Gregor Rohmanns Beispiele eine starke Beteiligung außerfamiliärer Personen an der Entstehung und Verbreitung der Familienbücher belegt haben, war dies bei den vorgestellten italienischen Quellen weniger zu sehen. Das Bewusstsein um die Fragilität des Wissens der eigenen Familie war jedoch bei allen Autor:innen der vorgestellten Quellen vorhanden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Marc von der Höh (Rostock) / Hanna Wichmann (Rostock)

Marc von der Höh (Rostock): Familiäre Wahrheiten und prekäres Wissen. Zur Einleitung

Gregor Rohmann (Frankfurt am Main): Wessen Fakten? Dienten die Augsburger Ehrenbücher der familiären Statusrepräsentation?

Hanna Wichmann (Rostock): Fragile Erinnerungen. Die Konstruktion von Wahrheiten am Beispiel der Florentiner Familienbücher

Marco Tomaszewski (Freiburg): Inszeniertes Wissen. Familienbücher, mediale Praktiken und soziale Ungleichheiten

Lisa Kaborycha (Prato): Florentine Zibaldoni. Edifying Facts and Fictions in Renaissance Family Books

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